Neuen Kommentar hinzufügen

Abtreibung in Großbritannien – Entkriminalisierung inmitten statistischer Unzulänglichkeiten

Abgeordnete wollen Abtreibung entkriminalisieren. Dabei funktioniert noch nicht mal die Zählung

08.04.2024

Großbritannien diskutiert über Abtreibung und muss sich entscheiden, ob es Abtreibung vollständig legalisieren will – oder lieber auf Hilfe für Schwangere in Not setzt. Copyright by 1000plus-Montage/Bilder: IMAGO / ZUMA Wire

LONDON. In Großbritannien weiß gerade niemand so recht, wie viele Abtreibungen es in den Jahren 2022 und 2023 gegeben hat. Die Vermeldung der Zahlen wurde verschoben. Der Grund? Arbeitsrückstand bei der Bearbeitung der Formulare. Die letzten aktuellen Zahlen gibt es für das erste Halbjahr 2022. In England und Wales gab es in dieser Zeit 123.219 Abtreibungen. Zu dieser Zeit lebten dort rund 60,2 Millionen Einwohner – so eine Schätzung des „Office for National Statistics“. Zum Vergleich: In Deutschland gab es im selben Zeitraum laut dem„Statischen Bundesamt“ (1,2) 51.397 Abtreibungen – bei einer Einwohnerzahl von 84,6 Millionen im Bundesgebiet. Damit gab es mehr als dreimal (3,37) so viele Abtreibungen – pro Kopf – in England und Wales als in Deutschland. All diese Zahlen halten britische Abtreibungsaktivisten aber nicht davon ab, den Eindruck zu erwecken, der Zugang zu Abtreibungen sei praktisch in irgendeiner Weise erschwert. 

„Es ist Zeit, die Abtreibung vollständig zu entkriminalisieren.“

So fordert die Abgeordnete Stella Creasy vom Parteienbündnis Labour/Co-operative Party die vollständige Entkriminalisierung der Abtreibung in einem Meinungsbeitrag für den „Guardian“: „Es ist Zeit, die Abtreibung in England und Wales vollständig zu entkriminalisieren.“ Ähnlich wie im deutschen Recht ist eine Abtreibung in England und Wales de jure illegal, aber „eine Person“ soll „nicht für schuldig befunden werden“, wenn die Abtreibung unter bestimmten Indikationen und Vorschriften durchgeführt wird. Dann allerdings ist die Abtreibung faktisch legal bis zum Ende der 24. Woche – und unter bestimmten Umständen darüber hinaus. Worum geht es also den Aktivisten unter dem Stichwort Entkriminalisierung in einer Sache, die de facto ja beinahe und praktisch vollständig legal ist? Auch das lässt Creasy anklingen. Das Vorbild ihrer Vorstöße? Nordirland, in dem Abtreibung seit 2020 bis zur 12. Woche „bedingungslos legal“ ist – und danach gemäß dem englischen Kompromiss. 

Wichtiger als diese Sprachregelung scheint Creasy ein anderes Merkmal der Situation in Nordirland zu sein:

„Wir sollten von Nordirland lernen, das nun die fortschrittlichsten Abtreibungsgesetze im Vereinigten Königreich hat. Es existieren nun Vorschriften und Gesetze, die den Zugang auf der Grundlage eines Menschenrechts auf Abtreibung regeln. Ausschlaggebend ist, dass der Staatssekretär eine direkte Verantwortung hat, den Zugang auf dieser Grundlage zu gewährleisten. Das bedeutet, dass sogar jene Minister, die diesen Dienst ablehnen, für dessen Bereitstellung argumentieren mussten, da sie andernfalls mit Sanktionen vor Gericht rechnen müssen. Die Sperre Nordirlands verlangt von ihnen, die Bereitstellung im Einklang mit internationalen Menschenrechtsverpflichtungen zu gewährleisten.“

Es scheint also um die Fiktion eines sog. „Rechts auf Abtreibung“ zu gehen – und (Straf)-Verfolgung für die, die sich diesem Gedanken widersetzen. 

Worum geht es wirklich? Um die Anerkennung von Abtreibung als Menschenrecht

Zusammen mit Abgeordneten anderer Parteien wie Dan Poulter von den Tories oder Caroline Lucas von den „Grünen“ will Creasy einen Änderungsantrag ins britische Unterhaus einbringen, der Abtreibung bis zur 24. Woche komplett legalisieren – und Schutzmaßnahmen gegen den Abbau des Zugangs einführen würde. Das berichtet der „Guardian“ in einem anderen Artikel. „Durch die Anerkennung von Abtreibung als Menschenrecht können wir weitere Einschränkungen des Zugangs verhindern und zugleich diejenigen schützen, die Frauen dabei helfen, Abtreibungen sicher, rechtmäßig und nahe ihrem Wohnort vornehmen zu lassen“, so Creasy. Aber gibt es das überhaupt, „Einschränkungen des Zugangs“? Die 51.397 Abtreibungen aus dem ersten Halbjahr 2022 sprechen eine andere Sprache. Und wie viele sind es seitdem? Das will das „Office for National Statistics“ am 23. Mai verkünden – wenn bis dahin der „Arbeitsrückstand bei der Bearbeitung der Formulare“ behoben ist.

Was „Entkriminalisierung“ von Abtreibung wirklich bedeutet, lesen Sie in unserem Bericht über eine Klinik in den USA, die Abtreibung bis in die spätesten Schwangerschaftswochen durchführt: US-Klinik bietet Abtreibung bis zur Geburt an – die brutale Realität

Mehr zu diesem Thema